Es gibt nicht viele Crailsheimerinnen und Crailsheimer, die in allgemeinen biografischen Nachschlagewerken gefunden werden können. Einer von ihnen ist der Biochemiker Fritz Lindner. Seine pharmazeutischen Forschungen und eine Reihe von ihm entwickelter Arzneimittel haben ihn weltweit bekannt gemacht.
Fritz Lindner war der Sohn des Crailsheimer Fabrikanten Friedrich Lindner und seiner Frau Lina, geborene Voegele. Der Vater leitete die „Seifen-, Wäschepräparate- und Sodafabrik“ Wurst & Voegele in der Lange Straße 49a, der auch ein Dampfsäge- und Hobelwerk angeschlossen war. Die Familie wohnte in einem repräsentativen Gebäude in der Spitalstraße 19, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden war.
Auf die Prägung durch das Elternhaus blickte Fritz Lindner auch am Ende seiner beruflichen Karriere dankbar zurück: „Ich habe, glaube ich, nie einen Pfennig Taschengeld ohne Arbeitsleistung erhalten. Ich ging mit den Arbeitern in den Wald, um den Holzeinschlag zu kontrollieren, habe die Gatter und Kreissägen der väterlichen Holzfabrik bedient, am Siedekessel und am Dampffass gearbeitet und verladen. Einmal hielt ich als Halbwüchsiger den Rekord im Kistennageln.“ Nüchtern, diesseitig, dem Machbaren zugewandt – das sind die Attribute, mit der Fritz Lindners Persönlichkeit beschrieben wird.
Fritz Lindner war ein Musterschüler. In den neun Jahren an der Realschule Crailsheim und dem Realgymnasium Hall war er achtmal Klassenbester. Auch das Abitur am Haller Gymnasium absolvierte er 1920 als Primus (in Crailsheim war erst nach dem Ausbau der Realschule zur Vollanstalt - Oberschule - 1940 das reguläre Abitur möglich). Dem Wunsch des Vaters gemäß begann er in Stuttgart Chemie zu studieren, obwohl es ihn eigentlich zur Medizin zog. Ursprünglich angetreten, um durch das Studium die Basis für die Fortführung des väterlichen Betriebs in Crailsheim zu gewinnen, wurde diese Absicht bald durch die Fähigkeiten und Ambitionen Fritz Lindners weit übertroffen. Er wechselte nach München und wurde dort an der Technischen Hochschule Schüler und Mitarbeiter des späteren Nobelpreisträgers Hans Fischer. Fritz Lindner promovierte 1926 bei Fischer mit dem Thema „Zur Kenntnis einiger natürlicher Porphyrine“. Noch im gleichen Jahr wurde er von den Farbwerken Hoechst verpflichtet – Beginn einer vierzigjährigen Karriere Lindners in diesem Unternehmen.
Als Lindner in das Laboratorium von Hoechst eintrat, befand sich die biochemische Forschung noch in ihren Anfängen. Der gebürtige Crailsheimer muss als einer ihrer wissenschaftlichen Pioniere im Rahmen der pharmazeutischen Industrie gelten. Mit ihm begann das biochemische Zeitalter bei Hoechst. Sein erstes Arbeitsfeld war die Entwicklung eines Trennverfahrens für zwei Hormone des Hypophysenhinterlappens. Am Ende dieser Arbeit Lindners standen zwei Hormonpräparate: das eine wehenfördernd zur Einleitung des Geburtsvorgangs, das andere ein Kreislaufmittel, das gefäßverengend und damit blutdrucksteigernd wirkt.
Berühmt wurde Fritz Lindner durch seine Arbeiten am Insulin, die entscheidende Fortschritte in der Therapie der Zuckerkrankheit (Diabetes) ermöglichten. Diese Krankheit, an der statistisch zwei bis drei Prozent der Bevölkerung leiden, ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, die auf dem Mangel eines Hormons beruht, das in der Bauchspeicheldrüse gebildet wird. Bis zur Entdeckung des Insulins durch kanadische Wissenschaftler zu Beginn der 1920er Jahre war Diabetes medizinisch nicht zu behandeln. Nur durch strengste Diät konnten die Betroffenen ihr Leben erhalten, den frühzeitigen Tod jedoch nur selten verhindern. Die Gewinnung des Insulins aus den Bauchspeicheldrüsen (Pankreas) bestimmter Schlachttiere und die Entwicklung der Verfahren für seine großtechnische Produktion bedeuteten für Millionen Diabetiker die Verlängerung ihres Lebens und ihre Wiedereingliederung in normale Lebensprozesse. Fritz Lindner hatte daran maßgeblichen Anteil: Durch seine Forschungen gelang es, größere Mengen von Pankreasdrüsen gleichzeitig aufzuarbeiten und die Ausbeute aus den angelieferten Organen zu steigern. Gleichzeitig bemühte er sich um die Verbesserung des Insulins selbst, etwa im Hinblick auf seine Reinigung von Fremdeiweißstoffen. Seine Arbeiten trugen entscheidend dazu bei, dass Hoechst als weltweit erste Insulinfabrik die gesamte Produktion auf kristallines Insulin umstellen konnte. Lindner erforschte die Möglichkeit des Depot-Insulins (Insulin mit längerer Wirkungszeit, das die Zahl der täglichen Injektionen herabsetzen sollte) und betrieb Studien zu einer oralen Darreichungsform.
Bei vielen Problemen wurde Lindners ausgeprägt praktisch-organisatorisches Talent deutlich: So baute er für Hoechst ein flächendeckendes Sammel- und Transportsystem für Bauchspeicheldrüsen auf, an dem einige hundert Schlachthöfe in Deutschland beteiligt waren. In Form einer Kühlkette sorgten sie für pausenlosen Nachschub an die Firma. Und als in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wegen der Zerstörung vieler Transportwege das notwendige schnelle Einfrieren der empfindlichen Pankreasdrüsen nicht mehr gewährleistet war, fand Lindner auch hier eine wirksame Lösung: Unmittelbar nach der Schlachtung wurde die Bauchspeicheldrüse zerkleinert und mit einem wasserfreien Salz gemischt. Sie trocknete aus und das Insulin blieb erhalten - ein Verfahren, das die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen für den Einsatz in anderen Regionen der Erde übernahm.
Aber nicht nur die Arbeiten am Insulin begründeten Lindners Bedeutung für die moderne Heilmitteltherapie: Berühmt wurden viele der von ihm entwickelten Präparate, so, um nur wenige zu nennen, das Herzmittel „Lacarnol“, das Blutersatzmittel „Haemaccel“ oder „Reverin“, das aus der Antibiotika-Forschung Fritz Lindners hervorging.
Für seine Arbeiten wurden Fritz Lindner, der ab 1960 Leiter der Pharmaforschung bei Hoechst und ab 1963 ordentliches Vorstandsmitglied im Konzern war, eine Vielzahl akademischer Ehren zuteil: 1960 wurde ihm die renommierte „Adolf-von Baeyer-Denkmünze“ der „Gesellschaft deutscher Chemiker“ verliehen, 1963/64 folgten die Ehrendoktortitel der Universitäten Münster und Frankfurt am Main. Ebenfalls 1964 ernannte ihn die Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Mainz zum Honorarprofessor und im folgenden Jahr die Universität Wien zu ihrem Ehrenbürger.
Fritz Lindner wäre heute 100 Jahre alt geworden. Er starb am 30. Juli 1977 in Maienfeld im Kanton Chur in der Schweiz.
Erschienen im Hohenloher Tagblatt vom 9. Oktober 2001
Autor Folker Förtsch