Kommunalpolitik ist „Graswurzelpolitik“. Keine politische Ebene ist so nah an den Menschen. Der Bezugsrahmen der Gemeinde ist überschaubar, die Probleme sind anschaulich, die Bürger sind von den kommunalen Vorgängen unmittelbar betroffen und sie können sie anders als auf Landes- und Bundesebene noch am ehesten selbst beeinflussen. Nicht umsonst wurde die Gemeinde als die „Grundschule der Demokratie“ bezeichnet. Diese Überlegungen waren auch ein wichtiges Argument dafür, dass seit 1999 nicht nur deutsche Staatsangehörige, sondern auch ortsansässige Angehörige von Mitgliedsstaaten der Europäischen Union („Unionsbürger“) bei den Kommunalwahlen mitwählen dürfen. Und sie stehen u.a. auch hinter der Neuregelung, dass bei den baden-württembergischen Kommunalwahlen in diesem Jahr das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt wurde.
Die anstehenden Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 bieten Anlass, einen Blick auf die Ent-wicklung der Gemeinderatswahlen in Crailsheim in den zurückliegenden Jahrzehnten zu wer-fen und einige Beobachtungen sowie markante statistische Daten festzuhalten.
Freie Kommunalwahlen waren in den Jahren des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 ein Fremdwort gewesen. Der letzte Vorkriegsgemeinderat war in Crailsheim im Juli 1935 nicht gewählt, sondern „durch den Beauftragten der NSDAP im Benehmen mit dem Bürgermeister berufen“ worden. Ihm gehörten ausschließlich Mitglieder der Nazipartei an. Seine Tätigkeit, die in den Kriegsjahren schon weitgehend zum Erliegen gekommen war, endete mit dem Einmarsch der Amerikaner in Crailsheim am 20./21. April 1945.
Um die gewaltigen Aufgaben zu bewältigen, die die Reorganisation des öffentlichen Lebens im kriegszerstörten Crailsheim stellte, wurde bereits Mitte Mai 1945 der neu eingesetzte Bür-germeister Wilhelm Gebhardt von der amerikanischen Militärregierung beauftragt, einen Gemeinderat zu bilden. Dem Gremium, das am 1. Juni 1945 erstmals zusammentrat, gehörten der I. Beigeordnete Karl Daurer sowie zehn Mitglieder an – natürlich alle durch das NS-Regime unbelastete Männer.
Im Januar 1946 fanden in Württemberg-Baden die ersten freien Gemeinderatswahlen seit 1931 statt. In Crailsheim hatten sich zwei Wahllisten gebildet: Eine bürgerliche Gruppierung unter dem Namen „Allgemeine Wählervereinigung“, die stark von CDU-Mitgliedern geprägt war, sowie die Liste der „Aufbauwilligen“, in denen sich Mitglieder der Arbeiterparteien, vor allem der SPD, aber auch der KPD, zusammengefunden hatten. Die bürgerliche Liste errang die Mehrheit. Sie brachte elf Kandidaten in den neuen Crailsheimer Gemeinderat, die „Aufbauwilligen“ nur sieben. Stimmenkönig bei dieser ersten Kommunalwahl nach 1945 war Brauereibesitzer Friedrich Fach („Allgemeine Wählervereinigung“).
Bereits im Dezember 1947 fanden die zweiten Nachkriegs-Gemeinderatswahlen in Crailsheim statt. Während die SPD jetzt unter eigenem Namen antrat, behielten die bürgerlichen Parteien CDU und DVP/FDP ihre Listenverbindung unter dem Namen „Allgemeine Wählervereinigung“ bei. Hintergrund war sicherlich die weithin verbreitete Vorstellung, dass Parteien und Parteipolitik auf dem Rathaus nichts zu suchen hätten und man dort rein sachbezogen und ideologiefrei entscheiden müsse. Die (freien) Wählervereinigungen propagieren diese Vorstellungen noch heute, auch wenn viele Untersuchungen inzwischen belegen, dass (natürlich) auch sie bestimmten Interessen folgen.
Für die kommunalpolitische Szene in Crailsheim bedeutete dieses Festhalten an einer bürgerlichen Einheitsliste aber, dass die CDU als eigene kommunalpolitische Kraft bis in die 1960er Jahre nicht, jedenfalls nicht unter ihrem Namen in Erscheinung trat.
Erstmals bei der Kommunalwahl 1962 präsentierte die CDU einen eigene Liste, allerdings zunächst immer noch verbrämt unter dem offiziellen Namen „Crailsheimer Bürgerblock (CDU und Heimatvertriebene)“. Mit Walter Rührich brachte sie bei dieser Wahl einen (ersten) Kandidaten in den Gemeinderat. Drei Jahre später – bis 1973 wurde alle drei Jahre alternierend jeweils nur die Hälfte des Gemeinderates neu gewählt – gab es endlich eine eigene „richtige“ CDU-Liste. Von den Kandidaten waren drei erfolgreich, darunter Konditormeister Wilhelm Frank und Pfarrer Rudolf Schütt, kommunalpolitische Schwergewichte dieser Jahre. Bis Anfang der 1970er Jahre lieferten sich CDU und die fortbestehende AWV ein Kopf- an Kopfrennen um die Vorherrschaft im bürgerlichen Lager. Seit den Wahlen 1975 liegt die CDU dabei klar in Front.
Wenn man sich die Mehrheitsverhältnisse im Crailsheimer Gemeinderat ansieht, so stellt man fest, dass die Crailsheimer Wählerinnen und Wähler offensichtlich keine Freunde radikaler Kurswechsel sind, sondern sich Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse hier eher langsam durchsetzen.
So kann man beim Rückblick auf die Kommunalwahlen seit 1946 drei Phasen unterscheiden: In den späten 1940er und in den 1950er Jahren standen sich in der Crailsheimer Kommunalpolitik die übergreifend bürgerliche „Allgemeine Wählervereinigung“ und die SPD gegenüber. Von 1946 bis 1959 hatte jeweils die bürgerliche Gruppierung die Mehrheit im Gemeinderat. Die zweite Phase begann mit der Kommunalwahl 1962. Sie sah erstmals die SPD in der Rolle der stärksten Gemeinderatsfraktion. Mit Ausnahme der Wahlen von 1968 konnte die SPD diese starke Position bis zu den Kommunalwahlen 1980 halten. Seit 1984 schließlich erringt bei den Gemeinderatswahlen durchwegs die CDU die meisten Mandate. Absoluter CDU-Höhepunkt bisher war die Wahl 1999, bei der die Partei 19 Sitze erringen konnte, das höchste Ergebnis einer Liste in der bisherigen Geschichte der Crailsheimer Kommunalwahlen überhaupt.
In die Phalanx von CDU, SPD und AWV, die das Crailsheimer Stadtparlament seit 1946 bestimmen, gelang es bisher nur der UGL dauerhaft einzubrechen – trotz zahlreicher Versuche unterschiedlicher Gruppierungen. Seit 1984 bildet die „Unabhängige Grüne Liste“ die vierte der Crailsheimer Rathausfraktionen.
In besonderem Maße ist die Kommunalwahl eine Persönlichkeitswahl. Das badenwürttembergische Wahlsystem reagierte darauf von Beginn an mit sehr differenzierten Möglichkeiten der Stimmabgabe: So kann der Wähler einem Bewerber bis zu drei Stimmen geben (Kumulieren) und er kann Kandidaten aus verschiedenen Listen mit seinen Wahlstimmen unterstützen (Panaschieren). Damit hat er im Grunde die Möglichkeit, aus den Kandidaten der verschiedenen Wahlvorschläge seine eigene Wunschliste für den Gemeinderat zusammen zu stellen. Dieses System führt dazu, dass besonders angesehene oder beliebte Persönlichkeiten, aber auch durch ihr Engagement und ihre Durchsetzungsfähigkeit besonders hervorgetretene Kommunalpolitiker außergewöhnlich viele Stimmen auf sich vereinen können.
Die „Stimmenkönige“ bei den Wahlen zum Gemeinderat in Crailsheim seit 1946 waren (jeweils nur bestes Ergebnis):
1. Hermann Bachmaier (SPD) 10.200 Stimmen (1980)
2. Rudolf Golly (SPD) 9.544 Stimmen (1975)
3. Hans Schuster (CDU) 8.719 Stimmen (1980)
4. Harald Bourzutschky (CDU) 8.611 Stimmen (1994)
5. Dr. Erich Kunz (CDU) 8.215 Stimmen (1975)
6. Manfred David (SPD) 8.191 Stimmen (1994)
7. Peter Bechtel (AWV) 8.024 Stimmen (1994)
8. Hanns-Uwe Gebhardt (SPD) 7.609 Stimmen (1984)
9. Helmut W. Rüeck (CDU) 7.603 Stimmen (2004)
10. Helga Hartleitner (SPD) 7.313 Stimmen (1994)
11. Werner Gulden (CDU) 7.182 Stimmen (1994)
In Baden-Württemberg wie in Crailsheim leben mehr Frauen als Männer. Ihr Bevölkerungs-anteil beträgt 51%; entsprechend ist ihr Anteil an den Wahlberechtigten. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist die Präsenz von Frauen in den Gemeinderäten sehr gering. Bei den Kommunalwahlen 2009 gingen landesweit nur 22% der Gemeinderatsmandate an Frauen. Noch niedriger liegen die Zahlen für Crailsheim: Der Frauenanteil unter den Gemeinderäten beläuft sich hier aktuell (Wahl 2009) auf knapp 17%, immerhin ein spürbarer Anstieg zur Wahl davor (2004), als er bei nur 10% lag.
Die erste weibliche Kandidatin, die nach 1945 einen Gemeinderatssitz errang, war die Lehrerin und spätere Organisatorin der Schulspeisung in Crailsheim Julie Pöhler (Allgemeine Wählervereinigung, aber Mitglied der CDU). Bereits bei der ersten Wahl im Januar 1946 war sie erfolgreich. Allerdings musste sie ihr Mandat bereits im Sommer 1946 zurückgeben, als sie wegen des Verdachts, im Spruchkammerverfahren ihren Fragebogen gefälscht zu haben, verhaftet wurde. Die Vorwürfe stellten sich später als unbegründet heraus.
Es dauerte fast 20 Jahre, bis 1965 mit Lore Fach (AWV), ebenfalls einer Lehrerin, wieder eine Frau in den Crailsheimer Gemeinderat einzog. 19 Jahre saß Lore Fach in diesem wichtigsten Gremium der Stadt. Übertroffen wird sie von Frauenseite dabei nur von Ruth Kunz (CDU), Dr. Wera Burkhardt (AWV), Eva Kuhr (SPD), die jeweils 20 Jahre, und von Helga Hartleitner (SPD), die 30 Jahre Zugehörigkeit zum Gemeinderat aufzuweisen haben.
Obwohl Kommunalpolitik, wie eingangs ausgeführt, in besonderer Weise vor Ort erfahrbar wird und auch die Mitwirkungsmöglichkeiten sehr viel größer sind als auf Landes- und Bundesebene, liegt die Wahlbeteiligung zum Teil deutlich niedriger als bei Landtags- und Bundestagswahlen. Das gilt insbesondere für die Stadt Crailsheim, wo im Landesvergleich extrem wenige Wähler zu den Wahlurnen gehen.
Lag die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen bis in die 1970er Jahre in der Regel wenigstens noch bei etwa 60%, fiel sie danach kontinuierlich ab: 1999 gingen erstmals weniger als die Hälfte der Crailsheimer Wahlberechtigten zur Wahl (45,1%), 2004 waren es nur noch 42,2%. Crailsheim rangiert damit regelmäßig etwa 10% unter dem Landesdurchschnitt.
Bei der letzten Kommunalwahl 2009 schließlich lag die Wahlbeteiligung in Crailsheim bei beschämend niedrigen 38% (Landesdurchschnitt 51%), d.h. kaum mehr als jeder dritte Wahlberechtigte machte von seinem demokratischen Beteiligungsrecht Gebrauch. Auch wenn es dafür verschiedene Gründe geben mag, äußert sich darin auch ein ungewöhnlich großes Desinteresse an der Crailsheimer Kommunalpolitik – mit allen negativen Folgen für die politische Kultur in der Stadt.
Erschienen im Crailsheimer Stadtblatt vom 15. Mai 2014
Autor Folker Förtsch