Zu den lange Zeit unbeachteten Formen des Widerstandes gegen das Naziregime gehört der Versuch jüdischer Menschen, vor der drohenden Deportation und Vernichtung zu fliehen und ein Überleben in der Illegalität zu organisieren. Unterstützung und Solidarität erfuhren sie von einzelnen nichtjüdischen Frauen und Männern – den sog. „Stillen Helden“. Sie verhalfen den Verfolgten zur Flucht ins Ausland, unterstützten sie bei dem Bemühen unterzutauchen oder hielten sie vor ihren Häschern versteckt. Sie halfen ihnen mit Obdach und Nahrung, mit falschen Papieren oder Lebensmittelkarten. Seit einiger Zeit wissen wir, dass auch ein gebürtiger Crailsheimer zu diesen Menschen zählte, die durch ihren Einsatz jüdischen Menschen in existenzieller Not beistanden. Sein Name ist Prof. Dr. Kurt Schneider. Und auch wenn im Moment noch zahlreiche Fragen offen sind, lässt sich die Geschichte dieses „stillen Helden“ inzwischen in ihren wesentlichen Teilen rekonstruieren.
Kurt Schneider wurde am 7. Januar 1887 in Crailsheim geboren. Er war der Sohn des Juristen Paul (von) Schneider und seiner Frau Julie, geb. Weitbrecht, der Tochter des Stadtpfarrers von Esslingen. Vater Paul Schneider war 1885 als Amtsrichter nach Crailsheim versetzt worden und über zehneinhalb Jahre in dieser Funktion hier tätig. Im Februar 1896 verzog die Familie, darunter der neunjährige Sohn Kurt, nach Ulm, wo es der Vater bis zum Landgerichtspräsidenten brachte.
Kurt Schneider studierte Medizin und Philosophie in Tübingen, wo er 1912 zum Dr. med. promovierte. 1919 erfolgten in Köln seine Habilitation und drei Jahre später seine Ernennung zum außerordentlichen Professor. Mit den Veröffentlichungen dieser Jahre schuf Schneider die Basis für seine wissenschaftliche Laufbahn. 1931 wurde er zum Leiter der Klinischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie (heute Max-Planck-Institut für Psychiatrie) berufen und gleichzeitig zum Chefarzt der psychiatrischen Abteilung am Schwabinger Krankenhaus in München ernannt. Dort verbrachte er auch die Jahre des sog. „Dritten Reiches“, mit Beginn des Zweiten Weltkriegs immer wieder für längere Zeit als Oberstabsarzt zur Wehrmacht einberufen.
Wir wissen (noch) nicht, wie Kurt Schneider zum aufkommenden Nationalsozialismus und zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 stand. Auch seine Haltung zu Fragen der Rassen- und Erbgesundheitslehre, die zu dieser Zeit auch in wissenschaftlichen Kreisen hoch im Kurs stand, ist nicht geklärt. Immerhin scheint Schneider als Gutachter für das Erbgesundgesundheitsgericht tätig gewesen zu sein. Als gesichert aber kann gelten: Kurt Schneider war nicht Mitglied der NSDAP und im Unterschied zu vielen seiner Ärztekollegen nahm er auch an der „Euthanasie“-Aktion der Nationalsozialisten nicht teil. Im Gegenteil: Seit Beginn der 1940er Jahre wehrte er sich nachdrücklich gegen staatliche Versuche, die Schwabinger Psychiatrie den „Heil- und Pflegeanstalten“ zuzurechnen, was den Zugriff der NS-Organe auf seine Patienten erlaubt hätte.
Irgendwann in den Tagen zwischen dem 20. und 23. Februar 1945 wurde Kurt Schneider mit der Frage konfrontiert, einer jüdischen Ärztin, die akut von der Deportation nach Theresienstadt bedroht war, zu helfen, indem er sie vor dem Zugriff der NS-Behörden versteckte. Es ist nicht sicher, ob Schneider die in Lebensgefahr befindliche Magdalena Schwarz zu diesem Zeitpunkt schon kannte und es zu einem direkten Kontakt kam oder ob, wie Tochter Elisabeth Büscher vermutet, ein Mittelsmann ihn um Unterstützung für ihre 44-jährige Mutter bat.
Die jüdisch stämmige Magdalena Schwarz, geb. Buchwald, 1900 in Berlin geboren, geschieden und alleinerziehend, war Ärztin und eröffnete 1931 in München eine eigene Praxis. Obwohl 1922 katholisch getauft, galt sie den Nationalsozialisten als „Rassejüdin“ und verlor nach deren Machtantritt ihre Anstellung als Fürsorgeärztin bei der Stadt München. Auch die Kassenzulassung wurde ihr verweigert. 1938 schließlich entzogen ihr die „braunen“ Machthaber wie allen jüdischen Ärzten die Approbation und sie musste ihre Praxis schließen. Frau Schwarz erhielt die Erlaubnis, als sog. „Krankenbehandlerin“ weiterhin jüdische Patienten zu behandeln und arbeitete fortan im Israelitischen Krankenhaus in München. Wegen „Rassenschande“ saß sie von Mitte 1939 bis Anfang 1940 im Frauengefängnis Fuhlsbüttel ein. Ihre folgenden Versuche, eine Genehmigung für die Ausreise nach Südamerika zu bekommen, scheiterten. Als im Sommer 1941 die Barackenlager in Milbertshofen und Berg am Laim eröffnet wurden, in die die Münchner Juden vor ihrer Deportation zwangseingewiesen wurden, fuhr sie mehrfach wöchentlich mit dem Fahrrad dorthin, um die Insassen medizinisch zu versorgen. Als Jüdin war ihr die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel verboten.
Am 20. Februar 1945 erhielt Magdalena Schwarz den Deportationsbefehl. Binnen drei Tagen sollte sie sich in Arbeitskleidung und mit Verpflegung zum Transport nach Theresienstadt bei der Gestapo einfinden. Die Ärztin beschloss, dem Befehl nicht nachzukommen und unterzutauchen. Ihre Hoffnung war der gebürtige Crailsheimer Kurt Schneider – der sich ihrem Hilfeersuchen nicht verweigerte. Der Schwabinger Chefarzt brachte die jüdisch stämmige Frau in der geschlossenen Frauenabteilung seiner Klinik unter und bewahrte sie so vor Deportation und wahrscheinlichem Tod. Magdalena Schwarz überlebte und arbeitete nach ihrer Befreiung wieder als Ärztin mit eigener Praxis in München. Dort starb sie 1971.
Offensichtlich hat Professor Kurt Schneider wie die allermeisten „Stillen Helden“ nach 1945 um seine Rettungsaktion nicht viel Aufhebens gemacht. 1946 wechselte er als Ordinarius für Psychiatrie an die Universität Heidelberg. Bis heute gilt er als eine der letzten großen Persönlichkeiten der „klassischen“ Psychopathologie und als Psychiater mit internationalem Ruf. Sein Hauptwerk ist die „Klinische Psychopathologie“ von 1950, das bis heute 15 Neuauflagen erfahren hat. Kurt Schneider starb am 27. Oktober 1967 in Heidelberg. Am 18. Juli 2012 wurde eine Straße im Bereich „Hirtenwiesen II-West“ in Crailsheim nach ihm benannt.
Hohenloher Tagblatt vom 22. September 2012
Autor Folker Förtsch