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Vom Landstädtchen zum Industriestandort

Die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung Crailsheims in der Nachkriegszeit

Die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung der Stadt Crailsheim in den zurückliegenden 60 Jahren ist eine Erfolgsgeschichte, die, betrachtet man die Ausgangssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, keineswegs zu erwarten war. Aus der strukturschwachen, durch die Kriegsereignisse schwer gezeichneten Landstadt im äußersten Nordosten Baden-Württembergs ist ein prosperierendes Mittelzentrum und ein bedeutender Wirtschaftsstandort geworden. Crailsheim ist heute die drittgrößte Stadt in der Region Heilbronn-Franken und hat inzwischen bei mehreren Strukturdaten das vor ihm platzierte Schwäbisch Hall erreicht.

Dabei waren die Ausgangsbedingungen der Stadtentwicklung 1945/49 denkbar ungünstig. Die Stadt war zu zwei Dritteln zerstört, wertvolle Ressourcen gingen in den Wiederaufbau und in die Schaffung dringend benötigten Wohnraums. Die städtischen Finanzmittel waren durch die Währungsreform weitgehend verloren gegangen und zum Jahreswechsel 1950/51 wies der Altkreis Crailsheim eine Arbeitslosenquote von 16% auf – eine der höchsten im Land. Das Landratsamt sprach damals, wohl nicht übertrieben, von einem „verarmten, leistungsschwachen Gemeinwesen“.

Zwar war Crailsheim im Februar 1951 zum Förderbezirk erklärt worden, um insbesondere die Bedingungen für die Ansiedlung leistungsfähiger Industriebetriebe zu verbessern. Und tatsächlich ließ sich in den Jahren des Wiederaufbaus eine Reihe kleinerer und mittlerer Betriebe in Crailsheim nieder, die meisten von ihnen zunächst auf dem ehemaligen Fliegerhorst. Einige wichtige Namen waren: Stahlbau Heyking, Chemische Fabrik Vogelmann, Oson-Glaswaren, Wachsblumenfabrik Böhme, Metall-Gröger, Textil Korndörfer, Holz- und Spielwaren Dietrich, Spinnerei Klopfer oder Strunck Maschinenfabrik. Bei nicht wenigen dieser Firmen handelte es sich um Neugründungen von Firmen aus den deutschen Ostgebieten und der Sowjetischen Besatzungszone/DDR. Höhe- und vorläufiger Schlusspunkt dieser ersten Ansiedlungswelle nach 1945 war die Einweihung des Fabrikgebäudes der Voith-Turbo KG im Juli 1957, lange Jahre der größte Arbeitgeber in Crailsheim.

Betriebsansiedlung der Fa. Voith Turbo in den 1950er Jahren
Betriebsansiedlung der Fa. Voith Turbo in den 1950er Jahren

Trotzdem blieben die Erfolge in den städtischen Bemühungen um Industrieansiedlungen bis in die 1960er-Jahre hinein bescheiden. Der Nordosten Baden-Württembergs galt weiterhin als ausgesprochen strukturschwach. In der Landesplanung dieser Jahre wurde er als ein „im Vergleich zur Landesentwicklung zurückgebliebenes Gebiet“ bezeichnet.

Den Durchbruch im industriellen Ausbau schaffte Crailsheim in der Ära des (Ober-) Bürgermeisters Hellmut Zundel (Amtszeit 1962-1982). Entscheidend war dabei die Erhebung zum Bundesausbauort am 1. Januar 1967, übrigens als einzige Stadt in Nordwürttemberg. Großzügige Fördermöglichkeiten machten nun gewerbliche Investitionen in Crailsheim auch für größere Industrieunternehmen sehr attraktiv. Durch die Eröffnung der Bundesautobahnen A 6 Heilbronn-Nürnberg (1979) und A 7 Würzburg-Ulm (1987) konnte die Stadt in den darauf folgenden Jahren weitere wichtige Standortvorteile gewinnen.

In der Folge wurden großflächige Industriegebiete („Südost“ und „Flügelau“) ausgewiesen, in denen ab 1970 zahlreiche Betriebe ihre Produktionsstätten mit Hunderten, ja Tausenden neuer Arbeitsplätze eröffneten: Pechiney Aluminium-Presswerk (1970), Schubert Verpackungsmaschinen (1972), ELABO Elektro- und Elektronikeinrichtungen (1976), Zimmermann Toast (1979), Schumacher Umwelt- und Trenntechnik und Groninger Verpackungsmaschinen (beide 1980) sowie Bürger Feinkost (1983) sind einige der wichtigsten. Der größte Erfolg der Ansiedlungspolitik und die bis heute größte Industrieansiedlung in Crailsheim überhaupt war im Juni 1981 die Eröffnung eines Zweigwerks des US-Konzerns Procter & Gamble (Hygieneartikel). Es entstand in diesen Boomjahren der für Crailsheim charakteristische breit gefächerte Branchenmix, der die gewerbliche Struktur der Stadt bis heute prägt und ihre wirtschaftliche Stärke ausmacht. Zahlreiche dieser Firmen haben es in ihren Produktssparten zu Weltmarktführern gebracht.

Industriegebiet Flügelau I
Industriegebiet Flügelau I

Der Aufschwung, den die Stadt Crailsheim in den zurückliegenden Jahrzehnten in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung nahm, hatte seine Auswirkungen natürlich auch auf dem städtebaulichen Sektor. Vor allem in den 1970er-Jahren forcierte die Stadtverwaltung ein Konzept der städtebaulichen Neugestaltung der Innenstadt. Die zunehmende Wirtschaftskraft und die gewachsene zentralörtliche Bedeutung der Stadt sollten durch einen neuen Baustil deutlich sichtbar gemacht werden. Man wollte weg von der „kleinstädtischen Idylle“ der 1950er-Jahre mit den dominierenden zweigeschossigen fränkischen Giebelhäusern hin zu modernen mehrgeschossigen Bauten auch in der Innenstadt. Denn, so OB Zundel: „Mehrgeschossige Gebäude und insbesondere auch neue Geschäftshäuser machen die Wirtschaftspotenz einer Stadt sichtbar“. Ziel war die völlige Um- und Neugestaltung des Crailsheimer Stadtbildes. Bevorzugtes Baumaterial dabei waren Beton und Glas.

Eine zentrale Rolle in dem Konzept spielten Hochhäuser als sogenannte städtebauliche Dominanten: „Hochhäuser sind architektonischer Ausdruck unsrer Zeit und zugleich Ausdruck städtischer Wirtschaftskraft“. In den Jahren 1970 bis 1975 entstanden so, verteilt über das Stadtgebiet, zahlreiche Wohnhochhäuser als Ausdruck des „neuen Crailsheimer City-Looks“: etwa das Wohnhochhaus „Lehenbusch“ in Altenmünster, das zwölfgeschossige Hochhaus auf dem Roten Buck oder die Wohnanlage Kreuzberg. Am markantesten umgesetzt wurde die städtebauliche Neuausrichtung jedoch im Bereich der Jagstbrücke und der unteren Wilhelmstraße. Hier wurde mit dem Jagstbrückenhochhaus und dem gegenüber liegenden Panoramahochhaus das „moderne Tor zur Innenstadt“ realisiert. Gerade das Jagstbrückenhochhaus mit seinen 14 Stockwerken und seiner sanft aufschwingenden Parabelform liefert einen besonderen städtebaulichen Akzent.

Ausdruck städtebaulicher Moderne - Jagstbrückenhochhaus, 1976
Ausdruck städtebaulicher Moderne - Jagstbrückenhochhaus, 1976

Es verwundert nicht, dass die weit reichenden Pläne zur architektonischen Umgestaltung und Modernisierung der Stadt in der Bevölkerung nicht überall auf Zustimmung stießen. Es gab durchaus kritische, ja ablehnende Stimmen, und in der Frage der Zukunft des Bullinger Ecks ausgangs der Langen Straße kam es 1979 zu einem offenen Konflikt, bei dem sich eine Crailsheimer Bürgerinitiative und Vertreter des Denkmalschutzes im Sinne einer Erhaltung des Gebäudes durchsetzen konnten.

Aber nicht nur im Innenstadtbereich hat sich Crailsheim in den letzten 60 Jahren verändert. Durch die großräumige Erschließung neuer Wohngebiete am Stadtrand griff die Bebauung immer weiter in die Umgebung aus. Neue Stadtteile entstanden.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Kriegsende war die Ausweisung dieser Gebiete der eklatanten Wohnungsnot in Crailsheim geschuldet. Noch Anfang der 1950er-Jahre standen jedem Einwohner erst durchschnittlich acht Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung.

In dieser Phase, die bis in die 1960er-Jahre dauerte, entstanden u.a. erste Wohnanlagen auf dem Kreuzberg (Versuchsbauten der Forschungsgemeinschaft Bauen und Wohnen). Vor allem aber wurden durch die Württembergische Landsiedlung im neuen Stadtteil „Sauerbrunnen“ bis 1962 insgesamt 139 Siedlerstellen mit je zwei Wohnungen geschaffen. Hier fanden rund 1200 Menschen, überwie-gend Heimatvertriebene, ein neues Zuhause. Noch weit größeren Umfang erreichte der neue Stadtteil „Roter Buck“. Hier entstand in mehreren Etappen zwischen Mitte der 1950er- und Anfang der 1970er-Jahre Wohnraum für insgesamt mehr als 3000 Personen.

Seit den 1960er-Jahren förderten auch der gewachsene Wohlstand und der Wunsch nach dem eigenen Haus die Erschließung neuer Baugebiete. Sie entstanden vor allem am Mittleren Weg, im Norden des Kreuzbergs, in Ingersheim und Altenmünster. In den 1990er-Jahren erfolgte aufgrund des enormen Zustroms von Neubürgern (v.a. Spätaussiedler) der weitere großflächige Ausbau des „Kreuzbergs“. Er ist heute nach der Einwohnerzahl der größte Stadtteil Crailsheims.

Neue Entwicklungsmöglichkeiten ergaben sich zu Beginn der 1970er-Jahre im Zuge der Gemeindegebietsreform. Teils freiwillig, teils unter starkem staatlichen Druck wurden die bisher selbstständigen Nachbargemeinden Tiefenbach (1.1.1971), Onolzheim (1.8.1971), Roßfeld (1.1.1972), Jagstheim (1.3.1972), Westgartshausen (1.1.1973), Triensbach, Goldbach und Beuerlbach (alle 1.1.1975) nach Crailsheim eingemeindet. Durch den damit verbundenen Bevölkerungszuwachs konnte Crailsheim am 1. Januar 1972 zur Großen Kreisstadt erhoben werden.Aber es gab auch Rückschläge: Gegen heftigen Widerstand aus Crailsheim wurden zum Jahresbeginn 1973 die Landkreise Crailsheim und Schwäbisch Hall zu einem neuen Großkreis zusammengelegt. Der Kreissitz kam nach Hall. Dieser Verlust und der nachfolgend daraus resultierende Entzug des Hauptstellencharakters mehrerer ortsansässigen Behörden (zuletzt Finanzamt 2004) bedeutete für Crailsheim eine merkliche Einbuße an Zentralitätsfunktion.

Entwicklungspotential im Westen - in der Mitte Konversionsgebiet Hirtenwiesen II, Foto 2012
Entwicklungspotential im Westen - in der Mitte Konversionsgebiet Hirtenwiesen II, Foto 2012

Aktuell liegt die Entwicklungsperspektive vor allem im Westen der Stadt. Auf dem ehemaligen Militärareal von US-Armee und Bundeswehr entstehen der neue Stadtteil „Hirtenwiesen“ sowie das erweiterte Gewerbegebiet Hardt/Fliegerhorst. Die zivile Umnutzung (Konversion) des früheren Geländes umfasst eine Fläche von 150 Hektar.

In diesem Bereich ist auch die größte thermische Solaranlage Deutschlands im Entstehen begriffen, eines der „Leuchtturmprojekte“ der Bundesregierung im Energiesektor, das Crailsheim im vergangenen Jahr zum Meistertitel in der Solarbundesliga für mittelgroße Städte führte.


Erschienen im Hohenloher Tagblatt, Sonderbeilage, vom 25. Juli 2009

Autor Folker Förtsch